Schraubstrategie
Dass dieser Tag sein Leben verändern würde, wusste Bernd Bode noch nicht, als sein Wecker um fünf Uhr morgens klingelte, als er aufstand, sich anzog und in die Küche ging. Er wusste es noch nicht, als er seinen Kaffee kochte und sich ein Butterbrot mit Leberwurst schmierte. Und er hatte noch keine Ahnung, als er wie jeden Morgen um fünf Uhr dreißig in seinen alten Fiat stieg, um ins Werk zu fahren.
Auf dem Fahrersitz lagen ein altes Brötchen und ein Schnuller. Bernd schmiss beides in den Fußraum des Beifahrersitzes. Als er den ersten Gang einlegte, fasste er in Breireste, die am Schalthebel klebten. Einen kurzen Augenblick sah er einfach nur auf seine Hand; dann wischte er sie an seiner Arbeitshose ab. Er nahm sich vor, mit Sabine zu sprechen, und wusste im gleichen Moment, dass er das sowieso nicht tun würde. Seit das Baby da war, und das war jetzt immerhin schon fast ein Jahr, konnte er froh sein, wenn sie ihn überhaupt noch wahrnahm. Bernd fuhr los, rumpelte über irgendetwas, das unter den Reifen zerknackte – hoffentlich das hässliche Pony-Förmchen, dachte er – und bog auf die noch unbelebte Straße ein. Er schaltete das Radio ein und lauschte resigniert dem Rauschen, das es von sich gab, wenn jemand an den Knöpfen herumgedreht hatte.
Als Bernd auf den Hof der Werkshalle fuhr, war von Ludgers Mercedes SL noch nichts zu sehen. Er atmete auf. Dann könnte er es heute Morgen erst einmal ruhig angehen lassen. Mit Ludger hatte er zu Lehrlingszeiten Fußball gespielt. Sie waren zwar nicht die besten Freunde gewesen, aber ganz gute Kumpels und gingen auch schon mal zusammen einen saufen, wenn ihr Club gewonnen hatte. Heute war Ludger sein Chef und hieß für ihn Herr Ludewig. Er fuhr mit seiner Angeberkarre herum und ließ ihn täglich spüren, dass er ihm nicht verzeihen konnte, dass Bernd das Rennen um Sabine gemacht hatte. Manchmal, dachte Bernd, dass Sabine es ihm auch nicht verzieh.
Er ging durch den Personaleingang und schaute kurz zu Christa ins Büro. „Alles klar mit dir?“ sie sah ihn an.
„Klar“, antwortete er wenig überzeugend. Sie hob eine Augenbraue. „Bin nen bisschen nervös, weil gleich der Typ von Hosch wegen der Verschraubung an der neuen Babyschale kommt.“
Sie nickte ihm zu. „Ich schick ihn zu dir, wenn er sich hier meldet.“
„Danke, Christa.“ Er lief direkt weiter in die Halle, ohne den Umweg über sein eigenes Büro zu nehmen.
Der Werkzeughersteller war seine letzte Chance. Alle Versuche, Sitzschale mit Gurtraster sicher zu verschrauben, waren bisher gescheitert. Die Gurtraster kamen von einem anderen Zulieferer, als er vorgeschlagen hatte, weil Ludger angeblich Geld sparen wollte.
„Das ist doch wohl kein Problem für Sie, Herr Bode?“ klang Ludgers Frage Bernd noch im Kopf. „Herr Bode ist immer mächtig stolz darauf, dass er mit jedem Material fertig wird“, fügte er noch hinzu und zwinkerte lächelnd in die Runde. In Gegenwart des Geschäftsführers und des Vorstandsvorsitzenden war ihm natürlich keine passende Antwort eingefallen.
Er war mittlerweile mit dem gesamten Projekt zeitlich im Rückstand. Wenn er keine Lösung finden würde, könnte er nicht nur die erhoffte Gehaltserhöhung vergessen, sein Job stand auf dem Spiel – ausgerechnet wegen einer Babyschale. Und nicht nur seine Position wäre gefährdet. Die Werker, die jetzt mit dem neuen Projekt beschäftigt waren, waren nur für diesen Zweck eingestellt worden.
Sein Team war schon vollzählig, als er an die Montageinsel trat. Die Werker schauten ihn vertrauensvoll an. Wie Hündchen, die darauf warten, dass Herrchen das Stöckchen schmeißt. Er schaute einem nach dem anderen ins Gesicht. „Ihr wisst, dass es heute um die Wurst geht“. Sein Vorarbeiter Tim und die anderen nickten eifrig. „Da kommt der Typ mit dem neuen Wunderwerkzeug“, sagte Bernd und blickte auf den Mann im Hosch-Anzug, der einen Handwagen hinter sich herziehend auf die Insel zukam. „Also Jungs, Daumen drücken“.
An diesem Tag blieb Bernd wieder lange im Büro. Er konnte es immer noch nicht fassen. Das Werkzeug war der Knaller. Der Verkäufer hatte ihm eine neue Schraubstrategie vorgestellt, bei der es völlig gleichgültig war, was womit verschraubt wurde. „Damit könnte sogar ein Affe eine Banane an eine Kokosnuss schrauben“, hatte der Hosch-Typ es etwas drastisch ausgedrückt. Über den Affenvergleich war Tim direkt beleidigt gewesen. Aber Bernd hatte heute keinen Sinn für solche Befindlichkeiten. Hektisch hatte er den Akkuschrauber an sich gerissen und es wieder und wieder versucht. Immer mit demselben wunderbaren Ergebnis: Der Scheißgurt hielt endlich an der Babyschale und war auch bei ihren internen, knallharten Tests keinen Millimeter von der ihm zugewiesenen Position abgerückt. Sachte streichelte er über den Koffer, den der Verkäufer ihm zu Testzwecken dagelassen hatte. Hier drin steckte die Lösung all seiner Probleme. Mit diesem Koffer würde er Ludger fertigmachen. Bernd lehnte sich zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und steckte sich eine Zigarette an. Auf den waagerechten Rauchschwaden, die durch sein Büro zogen, sah er eine Babyschale nach der anderen wie auf einem Fließband an sich vorbeiziehen. Er griff zum Telefon, um Sabine anzurufen. Endlich einmal eine gute Nachricht. Sie würde sich mit ihm freuen, endlich würde sie sehen, was in ihm steckte. Und Ludger würde es nicht mehr wagen, sie schleimig anzugrinsen. Endlich würde die Gehaltserhöhung kommen und sie könnten nächstes Jahr zusammen in Urlaub fahren, irgendwas mit 24-Stunden-Babybetreuung. Er sprang auf. Nein, heute würde er auf die Nachtschicht verzichten, die er Sabine wieder einmal angekündigt hatte. Mit dieser Nachricht würde er sie persönlich überraschen.
Als Bernd rückwärts aus seinem Reihenhaus stolperte, fiel ihm der SL in der Nebenstraße wieder ein. Der kurze Stich, den er ignoriert hatte, und der doch alles schon vorweg genommen hatte. Der SL.
Er fiel fast über ein zerbrochenes Sandförmchen in der Einfahrt, als er zu seinem Wagen rannte. Zerstörung war das einzige, was er denken konnte. Tod und Zerstörung. Er riss die Kofferraumtür auf und suchte nach irgendetwas. Nach irgendetwas, mit dem er zerstören könnte. Den Wagenheber. Bernd kramte im Kofferraum, fand den Wagenheber nicht, fand schließlich den Koffer mit dem neuen Werkzeug. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Lachhaft, dass er so stolz gewesen war. Er nahm den Schrauber wie eine Pistole in die Hand und ging mit langen Schritten auf sein Haus zu.
Er drückte die Tür auf und schaute durch den dunklen Flur, den verschiedene Kleidungsstücke zierten. Sie hatten anscheinend keine Zeit verloren. Dann fiel ihm etwas ein. Er raffte sämtliche Klamotten, die er im Flur fand, zusammen und verschwand lautlos nach draußen.
Als Bernd das letzte Kleidungsstück – einen lächerlichen Herrentanga – am SL festgeschraubt hatte, wurde es am Horizont schon hell. Bernd trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Das zerbrochene Ponyförmchen machte sich sehr schön als Kühlerfigur. Er steckte den Schrauber zwischen Gürtel und Hose fest, stieg in seinen Fiat und machte sich auf den Weg zum Werk.
Heute Morgen könnte er es ruhig angehen lassen. Herr Ludewig würde sicher erst später zum Dienst kommen.
(Copyright: Ulrike Preuß)